Am 15. April 1885 verstarb Walther von Goethe, der letzte Enkel des Dichterfürsten. Mit Spannung wurde die Eröffnung seines Testaments erwartet. Dann stand fest: Alle Liegenschaften fallen dem Großherzogtum Sachsen-Weimar-Eisenach zu, der literarische Nachlass Johann Wolfgang von Goethes geht an die Großherzogin Sophie. Sie gründete das Goethe-Archiv und plante eine vierbändige Gesamtausgabe (Goethes' Werke. Herausgegeben im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. H. Böhlau, Weimar 1887-1919).
Für die Bearbeitung der naturwissenschaftlichen Schriften Goethes wurde der österreichische Germanist Rudolf Steiner empfohlen. Am 30. September 1890 traf Steiner in Weimar ein und fand Unterkunft in der Junkerstraße 12 (heute Trierer Straße). Von 1892 bis 1896 bewohnte er das Erdgeschoss des Hauses Prellerstraße 2 (heute Hotel und Restaurant Alt Weimar), wo ihm die verwitwete Anna Eunike auch die Bibliothek ihres verstorbenen Mannes zur Verfügung stellte. Hier entstanden seine Werke Die Philosophie der Freiheit. Grundzüge einer modernen Weltanschauung - Seelische Beobachtungsresultate nach naturwissenschaftlicher Methode (1894) und Friedrich Nietzsche, ein Kämpfer gegen seine Zeit (1895).
Das letzte Weimarer Jahr verbrachte Steiner in der Kurthstraße 16 (heute Villa Hentzel, Bauhausstraße 12).
Als im Mai 1889 die Erben den Nachlass Friedrich von Schillers ebenfalls an die Großherzogin übergaben, war die Grundlage für das Goethe-und-Schiller-Archiv gelegt. Am 1. Oktober 1890 begann Steiner im Weimarer Schloss mit der Sichtung der naturwissenschaftlichen Handschriften des Universalgenies: Er verglich Papierart, Größe, Korrekturen, Tintenfarbe..., studierte Abhandlungen über Mineralien, Magnetismus und Elektrizität, Knochenbau und Pflanzen... Goethes der Morphologie vorangestelltes Leitmotiv „Siehe, er geht vor mir über, eh ich´s gewahr werde, und verwandelt sich, eh ich´s merke. Buch Hiob" ( 1 ) charakterisierte die Arbeit der sieben Weimarer Jahre.
„Was er in glücklichem Zusammenwirken kritischer und produktiver Fähigkeit geleistet hat, hat den Beifall aller Kenner gefunden. Es ist seinem selbstlosen, unablässigen Bemühen zu danken, daß eine Fülle von Urkunden vorliegt, die dem Naturforscher Goethe eine vollere und höhere Würdigung sichert" ( 2 ), schrieb anschließend der Direktor des Archivs Bernhard Ludwig Suphan. Für eine Anstellung als Dozent für Philosophie an der Universität Jena reichte diese Einschätzung offenbar nicht.
Im Juni 1896 wurde über der Stadt Weimar ein neues Wahrzeichen eingeweiht: Das Goethe-und-Schiller-Archiv. Nach dem Vorbild des Château du Petit Trianon im Park von Versailles hatte die Großherzogin Sophie das imposante Gebäude (heute Klassik Stiftung Weimar, Hans-Wahl-Straße 4) errichten lassen.
Im Sommer 1894 begegnete der 33-jährige Rudolf Steiner der Schwester des Philosophen Friedrich Nietzsche. Elisabeth Förster-Nietzsche plante in Naumburg ein Archiv für ihren Bruder aufzubauen und hätte Steiner gern als Herausgeber seiner Schriften gewonnen. Steiner besuchte den hilflos gewordenen Nietzsche und sagte zu. Neben dem Nachlass des Naturforschers Goethe studierte er auch den „Propheten" Nietzsche und gab 1895 die oben genannte Biografie heraus. Im darauffolgenden Jahr wurde das Nietzsche-Archiv nach Weimar verlegt, 1897 gelangte es in die Villa „Silberblick" in der heutigen Humboldtstraße 36.
Im gleichen Jahr erschien Rudolf Steiners Schrift Goethes Weltanschauung (1897). „Goethes Weg von der Betrachtung der äußeren Natur zum Innern der menschlichen Seele, wie er sich nicht in Begriffen, sondern in Bildern vor den Geist stellte" beschäftigten ihn sein ganzes Leben. Weimar war der Ort, an den Steiner oft zurückdenken musste. „Denn die Enge, in der ich in Wien gezwungen war zu leben, erweiterte sich; und es wurde Geistiges und Menschliches erlebt, das in seinen Folgen später sich zeigte", heißt es in Mein Lebensgang (1925). Steiner kam noch häufig nach Weimar, um Vorträge zu halten oder ehemalige Kollegen und Freunde wiederzusehen. Aus seinem Grundmotiv, der Entwicklung des Geistes aus dem Erleben des Denkens heraus, wurde 1919 in Stuttgart die erste Waldorfschule gegründet.
„Frei ist der Mensch, insofern er in jedem Augenblick seines Lebens sich selbst zu folgen in der Lage ist." Rudolf Steiner, Die Philosophie der Freiheit - Grundzüge einer modernen Weltanschauung. GA 4 S. 164)
Quellen:
( 1 ) Hecker, Jutta: Rudolf Steiner in Weimar. Verlag am Goetheanum, Dornach 1985
( 2 ) Ebenda, S. 100 (In: Goethejahrbuch XVIII. Bd. 1897)
Fotonachweise:
( 1 ) Rudolf Steiner, gemeinfrei
( 2 ) Haus Eunike. H. P. und P. Clerc. In: Hecker, Jutta (sh. Quellen)
( 3 ) Goethe-und-Schiller-Archiv. Klaus-W. Haupt (2012)